Der Schatten von Finnja

Übernachten bei Noel

Es war eine dunkle Novembernacht. Clara übernachtete bei ihrem besten Freund Noel. Noels Eltern waren auf einer Geschäftsreise, deshalb waren sie alleine. Noels Haus war gross. Es stand etwas abseits vom Dorf auf einem Hügel mit ein paar Bäumen, die um diese Jahreszeit kahl waren wie ein glatzköpfiger Mann. Noel entzündete gerade ein Kaminfeuer, Clara rollte ihren Schlafsack aus und landete gleich in einem Spinnennetz. „Ich, mach es weg!“, schrie sie und Noel lachte sie aus. „Ist doch nur ein Spinnennetz, reg dich ab“, sagte er und holte zwei Taschenlampen aus der Abstellkammer. „Du wohnst wirklich in einer regelrechten Geisterbude…“, murmelte sie und liess sich auf das Sofa fallen. Da fiel ihr ein weisses Papier auf, das unter dem Sofa hervorschaute. Sie zog es hervor und entfaltete es. Darauf stand nur: „Ich komme.“ Sonst nichts. „Noel, komm mal", sagte Clara unsicher und wurde etwas nervös. „Was ist denn jetzt schon wieder? Wurdest du von einer Spinne attackiert?“, fragte Noel, der mit zwei Taschenlampen in der Hand um die Ecke kam. Sie zeigte ihm das Blatt und Noel stutze und setzte sich auf das Sofa. „Wo hast du das her?“, fragte Noel und knüllte es zusammen. „Es lag unter der Couch“, erwiderte Clara und begutachtete die alten Gemälde an der Wand. „Okay, naja egal, Lust auf Chips?“, fragte Noel und scherte sich nicht weiter darum. „Klar!“ Sie liefen in die Küche und machten den Küchenschrank auf. Da flog ihnen gleich noch ein Blatt entgegen. „Was zum..?“ Clara hob es auf und entfaltete es. Erneut stand da: „Ich komme.“ Clara lief allmählich ein Schauer über den Rücken. „Vielleicht ein dummer Streich?“, fragte Noel hoffnungsvoll und holte sich die Tüte Chips. „Ja klar, wer ist so dämlich und bricht in dein gruseliges Haus ein, das voller Spinnweben ist?“, fragte Clara sarkastisch und lief zurück ins Wohnzimmer. Noel folgte ihr. „Kann ja sein“, sagte er achselzuckend und liess sich auf seinen Schlafsack fallen.

Sie beschlossen, nicht weiter darüber nachzudenken. Was ein Fehler war. Denn was sie nicht wussten, war, dass der geheimnisvoller Verfasser der Botschaft die ganze Zeit im Schatten lauerte und das keine zwei Meter entfernt.


L

Sie quatschten gut eine Stunde lang und ich fragte mich, wie lange das noch dauern würde, bis Noel endlich die Chips-Packung öffnete und bleich wurde. Ich fand, dass dieses Versteck meiner Botschaft das Beste war. „Was ist denn, Noel, du guckst so komisch“, fragte Clara, nahm ihm die Tüte aus der Hand und blickte auch hinein. Ihre Gesichter waren zum tot lachen. „Okay, jetzt wird es gruselig…“, sagte sie und blickte todernst. Naja, für jemanden Normalen war es todernst, aber die hatten mich noch nie todernst blicken sehen. Das war mein Stichwort. Ich schlich hinaus in den Garten, was nicht schwer war, da sie vorher ein Fenster aufgemacht hatten, als Noel beim Feuermachen fast den Teppich abgebrannt hatte und alles voller Rauch gewesen war. Ich sauste die Fassade hoch und öffnete im Handumdrehen die gut zwanzig Schlösser am Dachbodenfenster. Dann stiess ich es auf. Noel und Clara zuckten zusammen, als sie das Geräusch hörten. „Was war das?“, fragte Clara ängstlich. „Ich weiss nicht, es kam vom Dachboden“, sagte Noel stirnrunzelnd und auch in ihm kroch die Angst hoch, das konnte ich spüren und das gefiel mir. Da liess ich es nochmals krachen. „Noel, du hast nicht zufälligerweise eine schlafwandelnde Schwester oder eine Katze, die mitten in der Nacht Sackhüpfen auf dem Dachboden veranstaltet?“, fragte Clara und Noel schaute sie verständnislos an. „Natürlich nicht, hier nimm eine Taschenlampe, wir sehen nach“, sagte Noel und versuchte zuversichtlich zu sein. „Habt ihr keine Lampen auf dem Dachboden?“, fragte Clara. „Nein, habt ihr natürlich nicht, na toll, es fängt an wie in einem Horrorfilm…“, beantwortete sich Clara ihre Frage selbst und lief Noel hinterher auf den Dachboden. Da wartete ich auf meinen Auftritt.


Clara

Es stank nach toter Maus auf dem Dachboden. „Da ist nichts, komm, wir gehen wieder runter“, sagte ich unsicher und wollte schon wieder die Treppe runtersteigen. „Clara… das Fenster ist offen…“, sagte Noel, der jetzt schneeweiss im Gesicht war. „Ja und, noch nie ein offenes Fenster gesehen?“, fragte ich ungläubig. „Doch, aber…“, erwiderte er. Ich lief zu ihm zurück und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, aber er stierte nur weiter das Fenster an. „Na toll, jetzt kommt gleich ein Geist und bringt uns um…“, sagte ich skeptisch und schaute mich um. In einer Ecke stand eine Vase und überall lag Gerümpel herum. „Komm jetzt, es war wahrscheinlich nur ein starker Wind oder so“, sagte ich und wollte keine Sekunde länger an diesem Ort verbringen. Da knallte hinter meinem Rücken die Falltür zu, die zur Treppe führte. Ich rannte dahin und zog daran. „So ein Mist, sie klemmt irgendwie! Noel jetzt hilf mir doch mal!“, schrie ich ihn an und bekam jetzt wirklich Angst.

„Clara, das war kein Wind, das Fenster war zu, mit mindestens zwanzig Schlössern und einer Kette…und das alles ist weg“, sagte Noel langsam und im Schein der Taschenlampe sah er unheimlich aus mit seiner Brille und seinen Knopfaugen. „W..was?“, sagte ich und wich langsam an die Wand zurück. Da krachte etwas. Ich blickte rüber zur Ecke. Eine Vase war runtergefallen. Wir hörten ein gruseliges Geräusch, wie wenn jemand mit einem Stock über den Boden kratzen würde. Und da war es. Eine schattenhafte Gestalt, die aus dem Boden herauswuchs. Und das Fenster blockierte. Noel war immer noch starr vor Schreck und ich wusste, dass er uns nicht retten würde, also packte ich ein Schwert, das an der Wand hing und vermutlich mal einem Ritter gehört hatte. Ich rannte schreiend auf den Schatten zu und schlug mit dem Schwert auf ihn ein. Aber das Schwert glitt durch ihn hindurch und ich traute meinen Augen nicht. Es war wirklich ein Schatten, nur dass kein Körper dazugehörte. Noel zündete seine Taschenlampe an, und statt dass das Licht seinen Schatten zeigte, war da nichts.

Noel lächelte böse und kam langsam auf mich zu. Der Schatten versperrte das Fenster. Ich wich vor Noel zurück und es schien aussichtslos. Da bemerkte ich, dass ich das Schwert noch in der Hand hatte. Noel zückte ein Messer aus seiner Hosentasche und wollte auf mich einstechen. Sein Blick versprach puren Wahnsinn. Instinktiv hob ich den Arm mit dem Schwert und schleuderte das Messer in eine Ecke. Noel fauchte wütend und ging jetzt mit Fäusten auf mich los. Ich bekam einen Schlag ins Gesicht und taumelte zurück. Ich versuchte ihn nicht zu verletzen, was aber fast unmöglich war. Ich wusste nicht, wie lange wir das schon machten, aber irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich warf ihn zu Boden und stach mit einem Schrei und Tränen in den Augen zu. Er gab einen erstickten Laut von sich und ich spürte einen stechenden Schmerz, der von meiner Brust aus ging. Ich blickte an mir runter und sah das Messer darin stecken. Wer hatte das geworfen? Noel lag ja röchelnd am Boden. Ich schaute rüber zur Ecke, in der das Messer gelegen hatte. Der Schatten sass zusammengekrümmt da, aber ein fieses Lächeln umspielte seine Lippen. Dann sackte ich zusammen und alles wurde schwarz um mich.

Als ich aufwachte, lag ich im Krankenhaus. Eine Ärztin beugte sich zu mir runter und fühlte meine Stirn. Meine Brust schmerzte immer noch. Da kamen alle Erinnerungen zurück. „Noel! Sie, was ist mit Noel passiert? Lebt er noch?“, schrie ich. „Sch, ganz ruhig, Clara, du hattest grosses Glück, dass du überlebt hast“, versuchte sie mich zu beruhigen. „Was ist mit Noel?“, fragte ich nochmal. Sie schaute traurig und schüttelte den Kopf.

Ich brach in Tränen aus. Sie tätschelte mir den Rücken und tröstete mich. „Er bat mich, ihnen das zu geben“, sagte sie und drückte mir einen Umschlag in die Hand. Ich bedankte mich. Offensichtlich hatte er noch genug Kraft gehabt, um einen Abschiedsbrief oder so zu schreiben. „Ich werde ihre Eltern verständigen, dass sie aufgewacht sind“, sagte sie und verliess den Raum. Ich atmete tief durch und öffnete den Umschlag. Auf den Brief war eine kleine Nachricht gekritzelt. „Jetzt hast du vielleicht überlebt, aber ich werde einen Weg in einen anderen Körper finden, glaube mir Clara. Aber jetzt fragst du dich bestimmt, wie es zu allem kam. Nun ich werde es dir erklären. Ich habe mich in Noels Herz gefressen, ich, L. Meinen Namen wüsstest du gerne, ich werde ihn dir aber nicht sagen. Noch nicht. Zurück zu Noel, ich habe mich in sein Herz gefressen und ihn mit einem Virus, einem dunklen Virus, vergiftet. Dann habe ich seinen Schatten gestohlen. Das war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass dies geschieht. Nun, jetzt weisst du ungefähr, was passiert ist, gebe Acht auf jeden Schritt, den du tust, aber denk daran, ich werde dich immer verfolgen und hinter dir sein. Wie ein Schatten…“, stand da. Ich war erschüttert und dachte, mein Leben sei zu Ende.

Als ich auf Noels Beerdigung war, war ich noch nie so traurig gewesen. Ich hatte meinen besten Freund umgebracht, weil er von einem Schatten namens L vergiftet worden war. Als sein Sarg am Altar stand, sagte der Priester, dass ich auch noch ein paar Worte sagen solle. Ich ging nach vorne und blickte mit gesenktem Kopf auf das Rednerpult. Da lag ein Blatt und darauf stand: „Das war nicht das Ende, Clara, es beginnt wieder von vorne. Ich komme!“ Ich schaute geschockt auf und sah, wie sich meine Mom in der hintersten Reihe erhob und böse lächelte. Und da war er, der Schatten ohne Körper.

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