Das alte Haus von Amina
Mein Name ist Amelie, bin 17 Jahre alt und lebe in England. Ich wuchs in einem sehr reichen Viertel auf. Meine Familie aber war immer aufs Sparen aus, weil mein Vater arbeitslos und Alkoholiker war. Meine Mutter hatte eine Arbeit, sie war Köchin in einem Restaurant, das kurz vor dem Bankrott stand. Da ich Einzelkind war, musste ich den ganzen Haushalt machen. Das hatte mich immer am meisten gestört, weil ich ja für die Schule arbeiten musste und fast immer, wenn ich die Stube putzte, lag mein Vater auf der Couch und schlief einen seiner legendären Räusche aus. So gut wie jeden Abend saß ich in meinem Zimmer und hörte zu, wie meine Eltern sich um alles Mögliche stritten. Mit der Zeit aber lernte ich, es zu ignorieren. Immer nach der Schule leerte ich den Briefkasten, weil das sonst niemand tat. So auch dieses Mal, ich stieg aus dem Schulbus, ging zum Briefkasten, öffnete ihn, holte einen Stapel mit sieben Briefen raus und ging ins Haus. Im Esszimmer hörte ich meinen Vater, wie er auf der Couch laut schnarchte. Ich sah die Briefe durch. Rechnung, Rechnung, ein Brief von der Polizei wegen zu schnellem Fahren, Werbung, Mahnung, ein Brief in blauem Umschlag, Rechnung. Ein blauer Brief – zuerst dachte ich mir nichts Besonderes dabei, weil unser durchgeknallter Nachbar immer wieder mal brieflich drohte, uns anzeigen zu wollen, weil unser Fernseher immer zu laut eingestellt sei. Wir hatten ja nicht mal einen Fernseher! Ich las den Absender. Das war aber eine ganz andere Adresse. „Stone Street 33“, ich wusste sofort, welche Adresse das war. Bei uns am Waldrand gab es ein sehr großes, altes Haus, in welchem schon lange kein Schwein mehr gesichtet worden war. Hastig machte ich den Brief auf, weil ich neugierig war. Anscheinend war der alte grimmige Onkel meiner Mutter gestorben. Wie es der Zufall so wollte, gehörte ihm das Haus und er wollte es meiner Mutter vererben, wie toll! Ich nahm einen Magneten, hängte den Brief an den Kühlschrank und warf die anderen Briefe in den Müll. Spät am Abend kam meine Mutter nach Hause und kam in die Küche. Sie war völlig übermüdet. Ich saß am Tisch und aß das Essen, das noch vom vorigen Abend übrig war. „Schläft er etwa immer noch?“, fragte mich meine Mutter. Ich nickte nur. Meine Mutter stöhnte verzweifelt und setzte sich neben mich. „Jemand hat dir einen Brief geschrieben“, sagte ich und zeigte auf den Kühlschrank. Sie sah mich flehend an und als ich ihre riesigen Augenringe sah, bekam ich irgendwie Mitleid. Ich stand auf und holte ihr den Brief. Sie las ihn durch und bekam dabei immer größere Augen. Ein paar Sekunden später sprang sie auf und jubelte laut: „Endlich, endlich können wir aus dieser hässlichen, schäbigen Wohnung ausziehen!“ „Was, du willst in dieses gruselige Haus einziehen?“, fragte ich sie verzweifelt, „es ist hässlicher als unsere Wohnung und dein Onkel hat mir früher erzählt, dass es darin spuke.“ „Ach“, erwiderte sie, „er hatte schon immer den Hang zur Übertreibung gehabt und er war schon seit seiner Jugend Fan von Gruselgeschichten.“ „Was ist denn hier los, seid doch mal ruhig, ich versuche zu schlafen, meine Güte!“ Das war das altbekannte Grummeln meines Vaters, wenn er einen heftigen Kater hatte. Er stützte sich mit dem rechten Arm an der Türe ab und in der anderen hielt er eine leere Bierflasche. Meine Mutter sah ihn wütend an und wollte gerade etwas sagen, als mein Vater sagte: „Holst du mir eine neue Flasche aus dem Keller, habe Kopfschmerzen und will die Treppe nicht runtergehen.“ Meine Mutter sah in so böse an wie noch nie. Es sah so aus, als wäre sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Geh nach oben Amelie“, sagte sie ruhig zu mir und ich ging nach oben, weil ich nun ein klein wenig Angst vor ihr hatte. Als ich oben angekommen war, hörte ich, wie meine Mutter vor lauter Wut schrie. Von meinem Vater kein Wort. Ich glaube, er war genauso geschockt wie ich. Später hörte ich nur noch, wie meine Mutter die Treppe hochkam. Dann stand sie vor meiner Zimmertür. Sie öffnete die Tür mit einem Ruck und kam in mein Zimmer. Sie sagte: „Pack die Koffer, nimm zuerst nur das Nötigste mit, wir beide ziehen aus, in fünf Minuten draußen beim Auto, hopp.“ Ich nahm meine Sporttasche und packte nur einen Pulli ein, eine Hose, Zahnbürste, Zahnpasta und eine Haarbürste. Ich ging nach draußen zu meiner Mutter, die schon im Auto wartete. Ich stieg ein und sie fuhr sofort los. Erst nach ein paar Sekunden traute ich mich zu sprechen und fragte sie: „Was ist mit Dad und wo fahren wir hin?“ „Dein Vater ist abgehauen und wir gehen zu dem Haus, welches mein Onkel mir vererbt hat, ob du willst oder nicht.“ Ich bekam Gänsehaut und traute mich nichts mehr zu sagen. Wir fuhren ungefähr zehn Minuten lang, ohne irgendeinen Ton von uns zu geben. Irgendwann hielt meine Mutter an und wir stiegen aus. Ich stand vor dem Haus und schwöre ich hatte noch nie so viel Heimweh gehabt wie in diesem Moment, obwohl mein altes Heim wirklich nicht das Beste gewesen war. Die Fassade des Hauses war ganz morsch, rechts auf der Seite gab es ein Gartentor mit einem grossen Schloss dran. Meine Mutter nahm mich an der Hand und wir gingen beide zu der Haustür. Die Tür war nicht verschlossen, also öffneten wir sie. Wir gingen rein und da war etwas Komisches. Die Wände innen drin waren ganz sauber und überhaupt nicht morsch. Die Einrichtung war ganz ohne Staub oder Schmutz. Von der Decke hing ein riesiger Kronleuchter, der nur so glänzte. Überhaupt nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. „Ach du Scheisse“, gab meine Mutter von sich. „So eine Sprache dulde ich hier nicht!“, wir beide zuckten zusammen. Auf der Treppe stand eine kleine, rundliche Frau. „Es ist sehr ungezogen, einfach in ein fremdes Haus einzutreten und so wild herumzufluchen“, sagte die Frau und stieg die Treppe hinunter zu uns. Sie stand direkt vor uns und erst jetzt sah ich ihr Gesicht. Es war ganz verschrumpelt und sie hatte ganz gelbe Zähne. Mit grimmigem Blick sagte sie: „Wer seid ihr überhaupt?“ “Der alte Herr, dem dieses Haus gehörte hatte, hat es mir vererbt. Ich bin seine Nichte“, sagte meine Mutter. „Ach ja, wie dumm von mir, das habe ich ja ganz vergessen. Ich habe schon lange auf sie gewartet.“ Sie grinste und schaute zu mir. „Und wer ist dieses hübsche Kind, wenn ich fragen dürfte?“ „Oh, das ist meine Tochter, Amelie.“ Ich starrte sie verdutzt an und brachte nur ein „h-hey“ raus. „Und wie heißen sie, Madame?“, fragte meine Mutter. „Ich heisse Maria Millers, die III, und bin ab heute eure Dienstmagd“, sagte sie mit einem breiten Grinsen. „Dienstmagd?“, fragte ich. „Ja, ihnen gehört ja schliesslich dieses Haus und in diesem Haus bin ich für alles zuständig“, meinte sie ohne den Bick von mir abzuwenden. Kurz nachdem sie das gesagt hatte, nahm sie unsere Sachen und gab uns ein Handzeichen, dass wir ihr folgen sollten. Wir gingen die Treppe hinauf. Ich blieb dicht hinter meiner Mutter, weil ich ziemlich Angst hatte vor dieser Frau. Die sah so aus, als wäre sie hundert Jahre alt oder so. Die Einrichtung sah ziemlich wertvoll und teuer aus. Überall in den langen Gängen hingen alte Bilder von irgendwelchen reichen Leuten, aus dem letzten oder vorletzten Jahrhundert. Wir blieben stehen und sie sagte: „Das hier wird dein Zimmer sein.“ Sie zeigte hinein und legte die Tasche vor dem Zimmer ab und nahm meine Mutter weiter, um ihr ihr Zimmer zu zeigen. Mein Zimmer war ein Traum! Das Bett riesig, bequem mit vielen kuschligen Kissen drauf. Ein riesiger Schrank. Ich hatte nicht mal so viele Kleider, um den Schrank zu füllen. Wunderschöne Vorhänge, die zugezogen waren. Ich machte sie auf und blickte hinaus. Von hier aus sah ich die ganze Stadt mit den vielen Lichtern durch die Dunkelheit. Ich konnte nicht glauben, dass ich nun hier wohnte. „Wie wundervoll“, dachte ich. Ich sah durch das Fenster durch den Garten. Das war aber kein normaler Garten. Ich bekam wieder Gänsehaut. Es war ein Privatfriedhof in dem Garten, genau vor meinem Zimmer! „Gute Nacht, Miss Amelie“, sagte die Frau Maria. „Danke“, sagte ich und sie war verschwunden. Ich weiss nicht weshalb, aber ich bekam Lust, den Friedhof näher zu betrachten. Ich nahm mein Handy und ging langsam aus dem Haus. Ich machte die Taschenlampe meines Handys an und ging durch die Gräber. Ich weiss nicht, was gruseliger war. Dass da tote Menschen lagen oder dass die Gräber aus dem 18. Jahrhundert waren. Aber vor einem Grab blieb mir den Atem stocken. Auf einem Grabstein stand mit grossen Buchstaben „Maria Millers die III“. Der Stein war ganz mit Efeu verwachsen. Ich ging näher ran und las die Jahreszahlen „1712 bis 1789“.
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